20. Januar 2012 · 15:18
© Screenshot: blogs.catster.com
Die rege Diskussion über diese tätowierte Sphynx-Katze auf dem fb-Account von Kater Paul und diesem Blog (Link) hat auch zu kontroversen Meinungsäußerungen über die (Qual-)Zucht von Sphynx-Katzen geführt. Dies wiederum gibt mir Anlaß, einmal grundsätzlich zur Tierzucht im Allgemeinen und Katzenzucht im Besonderen Stellung zu beziehen.
Die Domestikation der Nutztiere
Die Tierzucht gilt als große Kulturleistung des Menschen – jedenfalls aus der Sicht unserer Spezies. Aus der Sicht der Tiere wird diese Kulturleistung sicherlich anders bewertet werden müssen. Wie dem auch sei: Im Lauf seiner Domestikation des Tierreiches hat der Mensch zahlreiche Zuchtziele verfolgt und erreicht. Als Beschützer und Jagdhelfer dienen ihm Hunde, wichtige Fleischlieferanten sind Rinder und Schweine, Milch liefern Kühe und Ziegen, Eier erhält er von den Hühnern, Schafe versorgen ihn mit Wolle, Rinder und Elefanten sind schon lange nützliche Arbeitstiere, hervorragende Dienste leisten die Reittiere Pferd und Kamel, Fell und Leder stammen von vielen verschiedenen Tieren. Wie immer man zu dieser unvollständigen Liste der Nutzung und Verwertung der Tiere durch den Menschen stehen mag – eines läßt sich nicht bestreiten: Aus allen vorgenannten Zuchterfolgen zieht der Mensch direkten materiellen Nutzen: Nahrung, Kleidung, Arbeitserleichterung usw. usw.
Katzenzucht als junges Phänomen mit ästhetischen und sozialen Motiven
Dies kann man von der Katzenzucht nicht behaupten, die einzig und allein aus ästhetischen Motiven erfolgt. (Auf die wichtigste »Nutzfunktion« der Katze für den Menschen, ihre Jagd auf Mäuse, haben die vielen Zuchtbemühungen des Menschen nie Einfluss nehmen wollen.) Während der Mensch vor etwa 20 000 Jahren mit der planmäßigen Verpaarung von Nutztieren begonnen hat, werden Katzen erst seit knapp 150 Jahren gezüchtet. Die Katzenzucht begann im England des 19. Jahrhunderts, als aus den Kolonien zahlreiche exotische Katzen auf die Britischen Inseln kamen. Bis dahin hatte man Katzen ohne bemerkenswerten ästhetischen Gestaltungswillen in drei Gruppen eingeteilt: europäische Hauskatzen, asiatische Kurzhaarrassen und türkische Langhaarrassen. Dabei war stets klar, daß diese drei Grundtypen einer Herkunft sind: Nachfahren der vor Jahrtausenden in Ägypten domestizierten Felis lybica.
Die Urahnin aller Hauskatzen. Eine präparierte Felis lybica aus dem naturhistorischen Museum in Wien
Im Lauf der Verbreitung der Katze über den ganzen Erdball haben sich ganz unterschiedliche Varietäten entwickelt. Dabei spielten spontane Mutationen, Vermischungen mit Wildkatzenrassen und viele andere Faktoren eine Rolle – der menschliche Einfluß war immer von untergeordneter Bedeutung.
Diese Sicht der Dinge begann sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts langsam zu ändern. In dieser Zeit holten sich der Adel und das Großbürgertum in Abgrenzung zum einfachen Volk der Bauern und Kleinbürger vermehrt exotische Katzen ins Haus. Die in ihren Heimatländern ganz allgemein verbreiteten Siamesen, Kartäuser, Perser, Türkisch Angora usw. erhielten in Europa plötzlich den Status der Besonderheit, den sie ja in der Tat auch innehatten, denn diese Katzen waren selten und bis dahin auf unserem Kontinent kaum verbreitet. Entsprechend hoch war ihr Preis. Als am 13. Juli 1871 im Londoner Kristallpalast die erste Zuchtkatzenausstellung der Welt stattfand, war die Teilung der feliden Population in exotische Zuchtkatzen und angeblich miderwertige Hauskatzen bereits vollzogen. Folgerichtig hatte man auf dieser Ausstellung auch eine Klasse für Katzen der Arbeiterschaft, also Hauskatzen, eingerichtet. (Man spricht in Deutschland gern von Rasse- oder gar Edelkatzen, obwohl der Begriff Zuchtkatzen den tatsächlichen Sachverhalt zutreffender beschreibt. Denn die Begriffe Rasse- oder Edel- katzen implizieren eine höhere Wertigkeit der Tiere, obwohl sie ja lediglich durch planmäßige Verpaarung innerhalb einer Rasse und Varietät vermehrt werden.) 1887 gründete sich dann in London der weltweit erste Zuchtkatzenclub, der heute noch existierende »National Cat Club«. Dies lag im Trend der Zeit, in der man auch mit der Zucht von Ziervögeln und Zierfischen begonnen hatte. Bereits 1869 waren die ersten exotischen Zierfische (Paradiesfische) aus der chinesischen Hafenstadt Ningpo nach Europa gekommen.
(1876 zeigte man Nachzüchtungen dieser Fische auf einer Berliner Ausstellung. Anders als bei Katzen brach bei der Zucht von Zierfischen übrigens ein heftig geführter Streit aus. Eher traditionell gesinnte Freunde der Fischzucht verunglimpften die Zucht exotischer Fische als Spielerei und eitles Streben nach Effekten. Ein wirkliches Naturverständnis, so die Protagonisten dieser Anschauung, ergebe sich nur durch das Züchten einheimischer Arten. Außerdem berge der lange Transport dieser Tiere nach Europa für die Fische erhebliche Gefahren. In der Tat mußte man die Fische auf ihrer Reise durch Drahtgitter oder Netze vor den Schiffskatzen schützen, die die Exoten zum Fressen gern hatten.)
Das sprunghafte Anwachsen der Katzenzucht
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurden in Europa etwa 15 verschiedene exotische Katzenrassen gezüchtet. Ein halbes Jahrhundert lang änderte sich daran nicht viel. Erst in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts begann mit der Demokratisierung des Wohlstandes und der wachsenden Beliebtheit und Ver- breitung von Katzen die Zahl der Zuchtkatzenrassen deutlich zu steigen. Zwischen 1950 und dem Ende der 70er Jahre wurden fast 30 neue Katzenrassen gezüchtet. Heute existieren mehr als 60 unterschiedliche Rassen, die zumindest von einem der vier großen Katzenweltverbände anerkannt sind. Diese Zahl ist weiterhin im Steigen begriffen.
Im Unterschied zur Nutztierzucht legt man bei der Festlegung der Standards für Zuchtkatzen aus ästhetischen Gründen einzig und allein Wert auf äußere Merkmale: Fellfarbe und -länge, Augenfarbe, Körperbau, Kopfform usw. gelten als entscheidend für die Bewertung des Zuchterfolges. Kriterien wie Intelligenz, Robustheit, Spielfreude und Überlebensfähigkeit in der Natur spielen dagegen keine Rolle, jedenfalls existieren dafür keine Bewertungskriterien.
Man muß sich einmal vor Augen halten, daß die Evolution Jahrmillionen gebraucht hat, um aus der Katze ein perfekt ausgestattetes Tier zu formen, eben dieses »Meisterwerk der Natur«, wie Leonardo da Vinci die Katze einmal bezeichnet hat. Und dass es ein paar tausend Jahre dauerte, bis sich dieses Tier zum ungemein nützlichen und von vielen geliebten Haustier entwickelt hat, dem wir zu großer Dankbarkeit verpflichtet sein sollten. Dessenungeachtet hat der Mensch in kaum 50 Jahren über 40 neue Rassen gezüchtet, deren Anerkennung oft nur kurze Zeit auf sich warten ließ. Dieser Eingriff in die Natur hat, gepaart mit den skurrilen Geschmacksvorstellungen mancher Züchter, die absonderlichsten Ergebnisse getätigt, vor allem ab 1960.
Morgen hier auf diesem Blog: Entgleisungen der modernen Katzenzucht